Lavinia
A.
F.A.Z., 25.04.2007/ nmz 5/07
Endlose Gewaltspirale
André Werners Oper "Lavinia" in Osnabrück uraufgeführt
Die blutigen Unruhen in aller Welt, die Kämpfe zwischen verfeindeten
Stämmen oder Religionsgemeinschaften, das Gieren nach Macht und
ökonomischen Ressourcen bestimmen das weltpolitische Klima unserer
Tage.
…
Wenn heute ein Komponist sich den Titus-Andronicus-Stoff zur Vorlage
einer Oper erwählt, steht ihm dieses Panorama plastisch und emotional
bewegend vor Augen. In seiner Oper "Lavinia A.", für
das ihm Gerd Uecker unter Verwendung von Shakespeares Tragödie
und Heiner Müllers "Anatomie Titus Fall of Rome" das
Libretto schrieb, strebt André Werner kein individuelles Drama
an, er personifiziert vielmehr die "Mechanistik des Grauens".
Aus einem langen Krieg zurückgekehrt, setzen die beteiligten Parteien
das Gemetzel quasi im Familienbetrieb fort. Werner und Uecker haben
Shakespeares Vorlage entsprechend konzentriert. Nur noch vier Personen
bestreiten die Hauptaktionen: neben Titus dessen Gefangene, die Gotenkönigin
Tamora, seine Tochter Lavinia und der "böse Geist" des
Aaron, der wie ein ins Grauenhafte gewendeter Puck durch diesen blutigen
Albtraum jagt. Was demonstriert werden soll, könnte man auch in
einem Lehrbuch der Psychologie nachlesen: wie sich Aggressionen aufbauen,
bis sie nicht mehr umkehrbar sind. Auf aktuelle Zustände projiziert,
ist das allerdings eine wenig befriedigende Hoffnung.
André Werners Musikalisierung der szenischen Gestalten hält
sich von jedem nur-opernhaften Gestus fern. Was das kammermusikalisch
besetzte Orchester mit jeweils drei Trompeten und Hörnern, zwei
Posaunen, zwei Klavieren, Perkussion und kleiner Streicherbesetzung
sowie Live-Elektronik spielt, gleicht eher einem komponierten Kommentar
zu den Ereignissen auf der Bühne. Gleichwohl bietet die Musik auch
Atmosphärisch-Bildhaftes, wenn etwa dumpfe Trommelschläge
beim Auftritt des Chores Unheilvolles signalisieren, sie funktioniert
auch konstruktiv mit rotierenden Skalen, analog zur sich steigernden
Bewegung der Gewalt auf der Szene. Holzbläser finden sich in der
Partitur nicht, sie würden das Klangbild wohl zu stark "romantisieren".
Werners "Lavinia A."- Musik fesselt und überzeugt durch
ein gehärtetes Klangrelief, mit dem das Geschehen auf der Bühne
eine fast schmerzhafte Schärfe gewinnt.
…
Die Osnabrücker Uraufführung - "Lavinia A." entstand
im Auftrag des Theaters - sicherte dem Werk ein überzeugendes Entree.
Bemerkenswert auch das Publikum: Es will scheinen, dass ein engagiertes
Musiktheater allmählich auch beim "normalen" Opernbesucher
immer mehr Interesse findet.
GERHARD ROHDE
dradio 16.4.07 kulturheute/ taz 20.4.2007/ Neue Zeitschrift für
Musik 3/2007
Das Böse im Spitzenkragen
Die Literaturoper ist wieder auf Erfolgskurs: In Osnabrück schickt
André Werner mit "Lavinia A." den guten alten Shakespeare
in die Jetztzeit.
Aufmerksam wurde André Werner auf das heftige Frühwerk William
Shakespeares durch Heiner Müllers Kommentar "Anatomie Titus/Fall
of Rome". Die Partitur des 1960 geborenen Berliner Komponisten
stellt sich der Herausforderung des Wort-Stakkatos und der aus der Tiefe
des historischen Raums klagenden Stimmen: Dissonante Bläser und
hartnäckige Wiederholungen verweisen auf unerbittliche Situationen.
Manche Schreck-Geste profiliert sich im Verlauf von neunzig weithin
atemlosen Minuten, die jetzt in Osnabrück uraufgeführt wurden.
André Werner bietet handfestes Musiktheater mit hohem Sprech-Anteil,
pointierter Musik und einem Opfer, das Mitleid herausfordert: Lavinia
aus dem Hause des Titus Andronicus. Der Goten-Bezwinger dient seine
Tochter dem neuen römischen Imperator Saturnius als Frau an. Doch
der heiratet die von Titus als Gefangene zum Triumphzug nach Rom mitgeschleppte
Gotenkönigin Tamora, deren ältesten Sohn er zerfleischen ließ.
Tamora erhält als eskalierende Furie Gelegenheit zur Rache. Sie
stiftet die ihr verbliebenen Söhne an, Lavinias Liebhaber zu erschlagen,
die jugendschöne Rivalin zu vergewaltigen und zu verstümmeln
- sie reißen ihr die Zunge heraus, damit sie die Täter nicht
anzeigen kann.
Die Verstümmelung der Lavinia wird von André Werner einerseits
für Vokalisen der zwangsweise zum Verstummen Gebrachten genutzt,
andererseits zur Einführung einer Sprechstimme, die kommentierend
zum Einsatz gelangt. Insgesamt schwankt Werners Musik zwischen hartem,
distanziertem Kommentar zu der alten Tragödie und Momenten der
Einfühlsamkeit. Dies Changieren mag die Produktion auch für
ein größeres Abonnement-Publikum akzeptabel machen.
FRIEDER REININGHAUS
dpa 17.4.07
Moderne Oper «Lavinia A.» in Osnabrück
…
Das ist der Fall bei «Lavinia A.», der neuen Oper von Komponist
André Werner und Librettist Gerd Uecker, der Intendant der Dresdner
Semperoper ist. Das Werk beruht auf der Shakespeare- Tragödie «Titus
Andronicus», befasst sich aber mit einer zeitlosen Katastrophe:
Eine Gesellschaft vernichtet sich selbst. Das Publikum der Uraufführung
am Sonntagabend in Osnabrück reagiert mit lang anhaltendem Beifall.
…
Komponist Werner beschreibt die Rache-Orgie der Oper als «Mechanik
des Grauens», aktuelle Bezüge sind erwünscht, denn eine
Vernichtung, die in Selbstvernichtung gipfelt, hebe Gut und Böse
auf. Besonders perfide: Rache entfaltet sich in dem Stück immer
über Gewalt an den Kindern des jeweiligen Gegners, nur in Sachen
Härte und Brutalität sind die Figuren auch kreativ - ein Phänomen,
das der Komponist schon im Vorspiel mit harten Blechbläserfanfaren
aufgreift. Holzbläser und damit weichere Klänge fehlen völlig.
…
In einer eindrucksvollen visionären Szene kommentiert eine Doppelgängerin
Lavinias - gewissermaßen ihre Stimme - das Geschehen.
Eine Szene, die sicher selbst dem großen Shakespeare-Bewunderer
Verdi gefallen hätte.
Westfälische Nachrichten 17.4.07/ Das Orchester 6/07
Die Mechanik des Grauens
Schmerzhaft und brutal tönt die Musik André Werners aus
dem Orchestergraben. Aufrüttelnde, klagende, mitunter betäubende
Momente, die sich in ausgedehnte Phrasen aufspreizen, bestimmen über
80 Minuten lang das Geschehen.
Der Stoff der neuen Oper, im Theater Osnabrück höchst erfolgreich
uraufgeführt, ist knallhart wie die Musik. Lavinia A. erzählt
William Shakespeares Tragödie von Titus Andronicus.
…
André Werner, der in Berlin lebende Komponist, und sein Librettist
Gerd Uecker verschieben die Perspektive und stellen nicht Titus, sondern
Lavinia A. (A. meint Andronicus) in den Mittelpunkt. Lavinia ist die
Tochter des Titus - und auch das erste Racheopfer. Das sie bestialisch
vergewaltigt und verstümmelt wird, ist die Antwort der Kaiserin
Tamora auf den Mord an ihrem Sohn, den Titus zu verantworten hat. Und
so geht es eigentlich immer weiter. Werner spricht von einer "Mechanik
des Grauens". Das ist beileibe kein archaisches Phänomen.
…
Einen großen Fluss aus Tönen hat André Werner entworfen,
aus spannenden Tönen, die nirgends langweilig werden, die Überraschungen
bieten.
CHRISTOPH SCHULTE IM WALDE
Der Neue Merker 4.5.2007
„LAVINIA A.“ - Oper von André
Werner (Uraufführung)
Eine „Mordsgeschichte“ liegt der neuen
Oper vom erfolgreichen, auf Biennalen oft vertretenen Komponisten André
Werner zugrunde, einem Auftragswerk des Theaters Osnabrück: Feldherr
Titus A.(Andronicus) kehrt nach 23 Jahren Krieg heim, hat 23 Söhne
verloren, aber trug den Sieg davon; die feindliche Ostgoten-Königin
Tamora mit ihren drei Söhnen ist in seine Hände gefallen…
- Eine moderne Sehweise auf Nahost, Irak, Dafur? Auf Gefängnisse,
Folter und Entführungen? - Mitnichten! Eine Originalgeschichte
vom jungen Shakespeare, allerdings frei erfunden, liegt buchstabengetreu
der Oper zugrunde. Zu diesem starken Tobak bemerkt Heiner Müller:
“Der Menschheit die Adern aufgeschlagen wie ein Buch im Blutstrom
blättern“.
Die dazu passende Musik beginnt mit gewaltigen Attacken der Blechbläser,
schrill, brutal; schreiendes, dunkles und grelles Schlagwerk begleitet
die Morde, aggressiv-spannungsvolle Streicher werden eingeblendet -
alles auf herkömmlichen Instrumenten, äußerst kontrastreich
und frisch originell, kaum die Gehörgänge verletzend; in der
Ästhetik nicht mehr tonal gebunden.
Einzel- und Chorgesang drücken sich sehr variationsreich
aus: Titus schreit und deklamiert mit expressiver Kehle, Lavinia singt
mit arioser Stimme, die ins Wehklagen und Lallen verfällt, der
schönen Tamora bleiben hasserfüllte und triumphierende feine
Töne vorbehalten, daneben gellende Aufschreie…
Eine beeindruckende, aufwendige Leistung dieses „Provinztheaters“.
Das gut besetzte Haus, ergriffen wie bei der Revue einer antiken Tragödie,
dankte mit lang anhaltendem Beifall, der sechs Vorhänge forderte.
ULRICH SPRINGSGUTH
die deutsche bühne 6/07
Getriebe des Grauens
Uraufführung: André Werners Oper "Lavinia A."
in Osnabrück
…
Hier hat er (auf ein Libretto von Gerd Uecker) eine absichtsvoll disparate
Musik geschrieben, dominiert von Blech und Schlagwerk, mit zwei Klavieren,
spröden Streichern und starken Elektronik-Zuspielungen. Das ist
rhythmisch kompliziert organisiert, sozusagen in einer genau getimten
Nicht-Gleichzeitigkeit, die merkwürdig zersplittert, "kaputt"
klingt.
…
Auch das macht die Stärke von Werners Musik für kleines Orchester,
Kammerchor, vier Solisten und eine Sprechrolle aus: Sie illustriert
dieses Getriebe des Grauens nicht nur . Immer wieder nimmt sie sich
Zeit für düster raunende, brodelnde, melismatisch kreisende
Episoden, in denen das blindwütige Geschehen gleichsam einen Resonanzraum
findet.
DETLEF BRANDENBURG